Kulturerbe und Widerstand Museen als wichtiger Baustein zur Zukunft der Ukraine
Mit dieser Aussage fasst Stefan Rössel, Beauftragter für Auswärtige Kulturpolitik und stellvertretender Leiter der Abteilung Kultur und Gesellschaft im Auswärtigen Amt (AA) sowohl die Situation in der Ukraine als auch das Verständnis der deutschen Bundesregierung zusammen: die ukrainische Kultur muss bewahrt und geschützt werden.
Er berichtet über die unterschiedlichen Förder- und Unterstützungsprogramme der Bundesregierung: So werden jährlich 35 Millionen Euro für die ukrainische Kultur- und Wissenschaftslandschaft bereitgestellt, Kulturakteur*innen und gesellschaftliche Netzwerke innerhalb und außerhalb der Ukraine gefördert und Stipendien an ukrainische Student*innen und Wissenschaftler*innen vergeben. Wichtige Mittler seien an dieser Stelle das Goethe-Institut (Externer Link), der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) (Externer Link) und die Alexander von Humboldt-Stiftung (Externer Link). Auch mit OBMIN und dem Ukrainischen Institut – beide werden auf der Fachveranstaltung noch selbst sprechen – arbeite das AA zusammen.
Stefan Rössel erwähnt auch die URC 2024 in Berlin. Auf der Konferenz im Juni sei die Zivilgesellschaft eng eingebunden und auch dem Kultursektor größere Aufmerksamkeit gegeben worden. Er begrüßt, dass Kultur auf der URC 2025 in Rom ebenfalls wieder einen gebührenden Platz bekommen soll.
Aber warum ist Kultur und Kulturerbe so wichtig? Vor allem wenn russische Bomben und Drohnen tagtäglich Menschen töten und Energieinfrastruktur und Wohnhäuser zerstören?
Stefan Rössel sieht Kultur als eine wichtige Basis für Resilienz. Diese speise sich aus der eigenen (kulturellen) Identität und Geschichte. Und somit spiele das Thema auch für den Wiederaufbau der Ukraine eine wichtige Rolle.
Dass es bei der russischen Strategie nicht allein um die Bombardierung von Denkmälern geht, meint auch Dr. Konrad Schmidt-Werthern. Er arbeitet bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), Kulturstaatsministerin Claudia Roth, und erklärt den tiefergehenden Sinn hinter den russischen Angriffen:
„Wir haben alle mehr als verstanden (…), dass der Krieg in der Ukraine (…) nicht nur ein Angriff auf die dort lebenden Menschen ist, sondern dass sich dieser Krieg gegen die Demokratie, gegen die Meinungsfreiheit, gegen die Kunstfreiheit und gegen die kulturelle Identität des Landes richtet. Auch deswegen geht uns dieser Krieg alle an.“
Er berichtet über die Maßnahmen seitens der BKM. Zusammen mit dem AA seien für das 2022 etablierte Netzwerk Kulturgutschutz Ukraine (Externer Link) Mittel für den Schutz kriegsbedrohter Kulturgüter, Gebäude und Denkmäler, sowie für die Digitalisierung von Sammlungen in über 500 Kultureinrichtungen bereitgestellt worden.
Die BKM unterstütze zudem Künstler*innen und Medienschaffende und fördere den Austausch zwischen deutschen und ukrainischen Organisationen.
Darüber hinaus würden auch gezielt Journalist*innen im Exil unterstützt. Denn der russische Angriffskrieg werde auch mit Desinformation und den Kampf um Deutungshoheit seitens Moskau geführt. Eine faktenbasierte Berichterstattung sei daher essenziell.
Zusammen mit dem AA habe man mit der Hannah-Arendt-Initiative ein Programm zum Schutz von Journalist*innen und Medienschaffenden aufgesetzt.
Dr. Konrad Schmidt-Werthern berichtet auch über den Besuch von Staatsministerin Roth in Odesa im Juni 2022. Diese „wollte ein Zeichen mit dem Besuch des Landes setzen für die Bedeutung der Identität der Ukraine und für die Bedeutung für den Wiederaufbauprozess in Zeiten des russischen Angriffskriegs. Es ging (…) auch darum, die Resilienz der Menschen vor Ort zu stärken. Der Menschen, die trotz der kontinuierlichen Bedrohung und der russischen Luftangriffe weiterhin das kulturelle Leben der Stadt gestalten.“
Odesa spielt auch aktuell eine wichtige Rolle im Bereich Kultur. Denn ab Januar 2025 werden dank der Unterstützung der BKM rund 60 herausragende Gemälde aus der Sammlung des ukrainischen Museums für westliche und östliche Kunst in Odesa in einer großen Sonderausstellung zusammen mit Objekten der Berliner Gemäldegalerie gezeigt.
Dr. Schmidt-Werthern lädt alle Teilnehmer*innen ein, sich die Sonderausstellung anzuschauen. Denn es gehe nicht allein darum, dass Menschen in anderen Ländern die Kunstschätze Odesas gezeigt bekommen. Es gehe auch darum, die engen kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und der Ukraine sichtbarer zu machen und ein Zeichen zu setzen, dass die ukrainische Kultur reichhaltig und schützenswert ist. Und geschützt werden muss.
Małgorzata Ławrowska-von Thadden, Gründerin und Geschäftsführerin der eingangs erwähnten Stiftung OBMIN, bestätigt die Aussagen von Stefan Rössel und Dr. Konrad Schmidt-Werthern.
„Die Vernichtung von Kultur ist ein gewollter Teil der russischen Kriegsführung (…), Museen als Kulturinstitutionen werden von den Russen systematisch ausgeraubt und auf den besetzten Gebieten auch zu Propagandainstrumenten genutzt. (…) Deshalb muss die Unterstützung der Ukraine umfassend sein und weiter verstärkt werden.“
Ihr Kollege Vasyl Pasternak erklärt anhand von Beispielen, was die Unterstützung der Ukraine im Kulturbereich bedeuten kann. Er berichtet von einem Museum aus Luhansk, das in den ersten Kriegstagen evakuiert werden musste und nun digitale Ausstellungen konzipieren möchte. Dazu benötigen die Mitarbeiter*innen aber technische Unterstützung und Geräte wie Laptops mit spezieller Verarbeitungssoftware und Kameras. Sie brauchen auch Unterstützung bei der Seminarkonzeption, da sie bislang ausschließlich analog gearbeitet haben. Hinzu komme die Sprachbarriere, denn viele Museumsmitarbeiter*innen sprechen entweder Ukrainisch, Russisch oder beides, nicht aber andere Sprachen.
Die Stiftung OBMIN, so erklärt Małgorzata Ławrowska-von Thadden, achte in ihrer Arbeit immer darauf, dass die Mittel bereitgestellt werden, die die Ukrainer*innen brauchen. Nicht die, die jemand Externes sich überlegt habe.
„Wir erleben jeden Tag in unserer Arbeit, dass die Museen ihre eigene Stimme haben. Unsere Rolle bei OBMIN ist, dass ihre Stimme gehört wird.“
Diese Stimmen konnten auch Anfang November 2024 auf der in Warschau stattgefundenen Konferenz „Filling Blind Spots 2.0: New Narratives and the Role of Museums in the Reconstruction of Ukraine (Externer Link)“ gehört werden. OBMIN hatte die Konferenz mit über 100 ukrainischen Museen unter der Schirmherrschaft des Präsidenten des ukrainischen Parlaments, des Marschalls des polnischen Senats und der Präsidentin des deutschen Bundesrates organisiert.
Partner*innen von OBMIN
„Das alles würde natürlich nicht möglich sein ohne starke Partner, ohne starke Schirmherren und da bedanken wir uns sehr bei all unseren Partnern. Wir sind sehr froh, dass wir diese Koalition der Institutionen fortsetzen können in verschiedenen Bereichen unserer Tätigkeit.“
Małgorzata Ławrowska-von Thadden
In den Monaten zuvor war bereits ein Dokument mit zehn Forderungen zur Rolle von Museen im Wiederaufbau entstanden, das auch in die Ukraine-Wiederaufbaukonferenz URC 2024 Einzug gefunden hat (PDF auf Englisch, Ukrainisch und Polnisch (Externer Link)).
Museen sollten demnach Orte für offene Diskussionen zur Zukunft der Ukraine sein und auch zur Bewältigung traumatisierender Kriegserfahrungen eingebunden werden.
Dem daneben gestellt wurde nun ein weiteres Dokument mit zehn Gedanken zu neuen Narrativen und zur notwendigen Dekolonisierung von Museen (PDF auf Englisch, Ukrainisch und Polnisch (Externer Link)).
Dekolonisierung werde oft mit den schrecklichen Taten europäischer Staaten auf anderen Kontinenten in Verbindung gebracht. Dabei werde laut Ławrowska-von Thadden oft übersehen, dass es mit Russland eine koloniale Macht auf dem Kontinent selbst gebe. Das Zarenreich, die Sowjetunion und das heutige Russland verbinde eine Konstante: Die Vorstellung, dass die russische Kultur anderen Kulturen im eigenen Land überlegen sei. Und darin, dass es eine ukrainische Identität gar nicht gebe oder geben dürfe.
Für die Ukrainer*innen sei daher der Umgang mit dem eigenen überlieferten und in Museen ausgestellten Erbe von großer Bedeutung, so Ławrowska-von Thadden.
Russlands Angriffe machen auch nicht Halt vor russischem Kulturgut in der Ukraine – zerstörte Statue von Maxim Gorki in Bachmut (Bild 1); Skulpturen „russischer Helden“ aus Museum in Kyjiw. Museumsmitarbeiter*innen prüfen nun ihre Verwendung (Bild 2)
Dabei sei bemerkenswert, dass es sich die Museen nicht einfach machen würden, wie man mit dem kolonialen Erbe umgehen solle. Es gehe demnach nicht darum, alles Russische oder vermeintlich Russische zu entfernen.
„In einer offenen Gesellschaft ist Vielfalt eine Stärke, kein Defizit“, zitiert Małgorzata Ławrowska-von Thadden aus dem Dokument der ukrainischen Museen.
Małgorzata Ławrowska-von Thadden zeigt sich erfreut über die bislang erreichten Ergebnisse. Gerade erst habe sie die Information aus dem ukrainischen Kulturministerium erhalten, dass die beiden Dokumente in die Strategie für die Entwicklung des ukrainischen Kultursektors 2025 bis 2030 aufgenommen worden seien. An der Stelle wird der Prozess aber nicht abgeschlossen, denn sie beendet ihren Vortrag mit einer klaren Vision:
„Ich bin immer beeindruckt vom Optimismus der Museen, trotz der schrecklichen Erlebnisse. Ich bin immer beeindruckt, (…) wie sie diese russischen Kulturverbrechen dokumentieren und ich bin sehr beeindruckt vom Willen, diesen Krieg durchzustehen und eine bessere Ukraine aufzubauen. Eine Ukraine, die Teil von der europäischen Wertegemeinschaft wird. Und dass man dann auch die Ukraine nicht nur als hilfsbedürftiges Land wahrnimmt, sondern als gleichberechtigen Partner und dass man auch die Kultur der Ukraine als Bereicherung für uns alle sieht, als Teil von unserem gemeinsamen europäischen Kulturerbe.“
Dass es noch viel zu tun gibt, drückt auch Dr. Kateryna Rietz-Rakul, Leiterin des Ukrainischen Instituts in Deutschland, klar aus: „Wir wollen nicht build back better, sondern nach vorne aufbauen!“
Sie zeigt damit, was sie als einen Auftrag im Bereich der Kulturdiplomatie und Kulturarbeit sieht: Es gehe darum, neue Narrative zu schaffen. Nicht darum, bestehende Narrative aufzugreifen und besser zu machen. Denn vieles, was für den Kulturbereich bislang galt, müsse laut Dr. Rietz-Rakul neu entwickelt werden. Sie erklärt das am Beispiel der ukrainischen Avantgarde, die im Westen noch immer als russische Avantgarde bekannt sei und nennt Oleksandra Ekster, Sonia Delaunay-Terk und Kasimir Malewitsch als bekannte Vertreter*innen dieser künstlerischen Epoche.
„Die Russen haben die Rolle der Kultur sehr gut verstanden und (…) beeinflussen immer noch sehr erfolgreich Gedankengut in Deutschland, die akademische Szene in Deutschland, die museale Szene in Deutschland und natürlich die politische“, so Dr. Rietz-Rakul.
Wie könne man dem also entgegenwirken? Dr. Kateryna Rietz-Rakul berichtet den Teilnehmer*innen der Fachveranstaltung über den Dekolonisierungsleitfaden des Ukrainischen Instituts in Kyjiw, der unter anderem mit der Museum Association in Großbritannien und mit Unterstützung des British Council entwickelt wurde und sich kurz vor der Veröffentlichung steht.
Dieser Leitfaden beinhalte sehr konkrete Fragen, Antworten und Hilfestellungen:
- Wie identifizieren wir kulturelles Erbe aus der Ukraine?
- Wie weisen wir kulturellen Objekten konkrete Standortinformationen zu, vor allem mit Blick auf mehrfache Änderungen der Staatsgrenzen?
- Wie fördern wir einen angemessenen Gebrauch von Sprache, Terminologie und Beschriftungen in den Museen?
- Wie stellen wir umstrittenes Erbe fair dar?
Zwar basiere der ukrainische Leitfaden stark auf dem britischen Buch zu Dekolonisierung, unterscheide sich aber in einem Punkt stark: Er wurde aus Sicht einer ehemaligen Kolonie geschrieben, nicht eines Imperiums.
Dr. Kateryna Rietz-Rakul hält es für möglich, dass der Leitfaden nicht nur für ukrainische Museen, sondern auch viele Museen im Ausland spannend und hilfreich sein könne. Denn das Beispiel der russischen, nein ukrainischen Avantgarde zeige, dass an vielen Stellen Aufarbeitung notwendig ist.
Sobald der Leitfaden vorliegt, wird er auch innerhalb der Plattform Wiederaufbau Ukraine vorgestellt. Die Aufzeichnung der Veranstaltung und Präsentationen der Gäste finden Sie am Textanfang.