Themenkreis Transparenz und Gute Regierungsführung Russische Narrative: Desinformation im Kontext von Krieg und Wiederaufbau
Beim groß angelegten Projekt der Desinformation spielen insbesondere historische Narrative eine große Rolle, so Prof. Dr. Klaus Gestwa, Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde (Externer Link) der Universität Tübingen. Wladimir Putin stilisiere sich selbst in öffentlichen Auftritten als historischen Lehrmeister. Sein pseudohistorisches Traktat „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“, das kurz vor dem ersten großen russischen Truppenaufmarsch an der russisch-ukrainischen Grenze 2021 erschienen ist, reihe sich ein in den großrussischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts.
Der Kern von Putins Erzählung: Die Ukraine sei ein vom kollektiven Westen beschworenes Gebilde und ihr historischer Ursprung, das vom 9. bis zum 13. Jahrhundert bestehende multiethnische Reich der Kyjiwer Rus, vielmehr die „Wiege der russischen Staatlichkeit und Kultur“. Schon 2014 habe Putin verkündet, dass die Krim, auf der der Kyjiwer Großfürst Wladimir 988 getauft wurde, für Russland so heilig wie Jerusalem für das Judentum sei. Entgegen seiner Erzählung wurde das heutige Staatgebiet der Ukraine allerdings erst im 18. Jahrhundert von Peter dem Großen und Katharina der Großen annektiert, die sich, wie auch der Kreml heute, der Kampfvokabel „Neurussland“ bedienten.
Von zentraler Bedeutung im Narrativ sei aber der zweite Weltkrieg: Dabei werde der sowjetische Mythos des „Großen Vaterländischen Krieges“ fortgeführt, Ukrainer*innen als Kollaborateure bezeichnet und die unabhängige Ukraine mit der Besatzungsmacht des Dritten Reichs gleichgesetzt. Der aktuelle russische Angriffskrieg sei damit die fortgesetzte „Denazifizierung“ der Ukraine. Diese Sicht unterschlage allerdings die ukrainische Dimension – so haben über sechs Millionen Ukrainer*innen in der Roten Armee gedient, rund ein Drittel der sowjetischen Kriegstoten komme aus dem Territorium der Ukraine.
Auch Erzählungen der 1990er spielten laut Prof. Gestwa eine große Rolle: Der Westen habe demnach den Zusammenbruch der Sowjetunion genutzt, um Russland durch die NATO- und EU-Erweiterungen zu destabilisieren. An dem anhaltenden Narrativ dadurch gefährdeter russischer Sicherheitsinteressen sei jedoch nicht viel dran: Schon seit 1991 betrieben die europäischen NATO-Länder eine gemeinsame Abrüstungspolitik. Auch in der NATO-Osterweiterung habe man Russland aktiv mit einbezogen und noch 2005 hieß es von Seiten Moskaus, man habe keine Bedenken und die Ukraine habe „wie jedes Land das Recht, seine eigene Form der Sicherheit zu wählen“.
Erst seit 2007 vertrete Putin ein gegenteiliges Narrativ. So inszeniere er sich heute als derjenige, „unter dessen Führung sich Russland endlich von seinen Knien erhoben habe, um dem kollektiven Westen Paroli zu bieten“.
Wie werden aber diese Narrative vermittelt? Zahlreiche Monumente verbreiten Russlands Geschichtsverständnis, vom Denkmal des Großfürsten Wladimir in Moskau bis zur landesweiten Großausstellung „Russland – Meine Geschichte“. Eine „besondere Geschichtslektion in Form patriotischen Vergnügens“ erhalte man laut Prof. Gestwa in Form von interaktiven Weltkriegs-Inszenierungen im Park Patriot nahe Moskau. Auch die russisch-orthodoxe Kirche sei massiv miteingebunden, so unterhalte sie dort die neu gebaute Kathedrale der russischen Streitkräfte, in der Soldaten vor dem Einsatz in der Ukraine gesegnet werden.
Verantwortlich für die narrative Großoffensive sei vor allem der ehemalige Kulturminister Wladimir Medinskij, der „als neuer russischer Geschichtsoligarch (…) beispielsweise an der Abfassung der neuen russischen Lehrbücher mitgewirkt“ habe. Auch die kritische Zivilgesellschaft sei verfolgt und geschwächt worden, man habe sie durch geförderte revisionistische Initiativen ersetzt, so Gestwa.
Dafür, dass russische Narrative gerade in Deutschland so viel Anklang fänden, gebe es im Kern drei Gründe: Erstens gebe es in Deutschland viel Unkenntnis über die ukrainische Geschichte. Dadurch nähmen viele Menschen die Ukraine als Störfaktor in der historischen Annäherung Russlands wahr, für den man den Wohlstand der deutschen Industrie opfere. Zweitens bestehe ein kulturell in Deutschland verankerter Russland-Komplex, der dem geheimnisvollen und in Teilen unbekannten Russland gleichsam Furcht und Faszination entgegenbringe. Drittens gebe es auch einen tief verankerten Antiamerikanismus, der alle Schuld auf Washington zurückführe. In einer Schuldlastumkehr werde bereitwillig den USA und der NATO die Schuld für den Überfall auf die Ukraine gegeben.
Olga Yurkova, Mitgründerin der Initiative StopFake (Externer Link), sieht die russische Desinformationskampagne als eine Schlüsselherausforderung für die Ukraine und als eine bedeutende Waffe in der hybriden Kriegführung. Sie ziele unter anderem darauf ab, das Vertrauen in Institutionen zu schwächen und die Ukraine als korrupten Staat darzustellen.
Dabei gebe es viele Kanäle der Verbreitung, russische Staatsmedien ebenso wie „nützliche Idioten“, nicht-russische Kanäle, die aus eigenen ideologischen Vorstellungen unbewusst russische Narrative verbreiten. Dazu könne auch Rhetorik zählen, die internationale Hilfe ablehnt, aber nicht auf den ersten Blick anti-ukrainisch ist. Praktisch verbreitet werden die Narrative unter anderem durch eine große Maschinerie an Bots, also Computerprogramme, die automatisiert Webseiten besuchen und Kommentare in Sozialen Medien hinterlassen. Dabei spiele auch die künstliche Intelligenz eine Rolle.
Die zentralen Narrative seien dabei folgende: der Wiederaufbau der Ukraine sei Geldverschwendung, das Land korrupt und der Krieg ginge zu Lasten der Steuerzahler*innen in Deutschland oder anderen westlichen Staaten.
Durch eine verfälschte historische Wahrnehmung werde damit verbreitet, die Ukraine sei aufgrund von Korruption und politischem Chaos ein gescheiterter Staat und könne somit nicht mehr seine grundlegenden Funktionen erfüllen.
Ebenso werden Narrative verbreitet, die von Spaltungen in der westlichen Unterstützung sprechen, aber statistisch keineswegs belegt seien. Das Ziel sei ein Ende der internationalen Unterstützung und ein Vertrauensverlust gegenüber der ukrainischen Regierung. Auch Ukrainer*innen werden dadurch gezielt angesprochen: Man schüre dadurch Misstrauen in die eigene Regierung und Angst vor einer Kolonisierung durch den Westen.
Deshalb setzt sich StopFake laut Olga Yurkova als erste Organisation in der Ukraine für „Media Literacy“ und Medienbildung ein. So hätten schon knapp 1.500 Schulen in der Ukraine Projekte zur Medienbildung im Unterrichtsplan stehen. Die Forschung zeige, dass Ukrainer*innen im internationalen Vergleich eine besondere Widerstandsfähigkeit gegen Desinformation aufweisen würden.
StopFake arbeitet auch mit dem Zentrum für Desinformationsbekämpfung zusammen, das beim Zentralen Sicherheitsrat der Ukraine angesiedelt ist. Den Teilnehmenden rät Olga Yurkova folgendes: Kritisch denken, Quellen überprüfen, gerade reißerische und empörende Nachrichten durch den Vergleich mehrerer Quellen validieren.
Auch Serhii Mikhalkov von texty.org.ua (Externer Link) beschäftigt sich eingehend mit der Verbreitung russischer Desinformationsnarrative. Als Datenjournalist und Analyst in der Abteilung für russische Desinformationsforschung beobachtet er russische Medien und konnte in der letzten Zeit bedeutende Veränderungen feststellen: So habe die russische Desinformationsmaschinerie eingesehen, dass man kein Narrativ von einer besseren „Russkij Mir“, der russischen Welt, verbreiten könne. Daher fokussiere man sich vielmehr darauf, das Vertrauen in die ukrainische Regierung und den Westen zu untergraben.
Einige der in der Ukraine bereits verworfenen Narrative fänden aber noch Anklang im Westen: sehr verbreitet sei die Ansicht, dass die NATO die Ukraine für einen Stellvertreterkrieg nutze und dass die Regierung der Ukraine vollständig vom Westen kontrolliert werde. In der bereits erwähnten Schuldlastumkehr werde ebenso erzählt, Russland wünsche sich den Frieden und der sogenannte „kollektive Westen“ sei allein für den anhaltenden Krieg verantwortlich. Auch die Erzählung, Polen oder Ungarn hätten die Absicht, Teile der Ukraine einzunehmen, würden im Westen Europas noch vereinzelt geglaubt.
Andere Narrative träfen auch in der Ukraine weiterhin auf fruchtbaren Boden: Russland kämpfe nicht gegen die Staatlichkeit der Ukraine, sondern gegen die NATO. Ebenso die Vermutung, westliche Staaten verhandelten einen Kompromiss zum eigenen Vorteil mit Russland. Eine hartnäckige, revisionistische Erzählung sei ebenso der Mythos, man habe noch im Frühjahr 2022 einen Frieden mit Russland verhandeln können, den der Westen gestoppt habe.
Die regelrechte Flut an Desinformation zeige Wirkung: Enttäuschung gegenüber der EU und der NATO führe zu Schwankungen in Umfragen. Auch manche ukrainische Politiker*innen verfolgten laut Serhii Mikhalkov anti-westliche Narrative zum eigenen Vorteil.
Wie aber werden russische Narrative und Desinformationen gestreut? Der zentrale Kanal ist laut Mikhalkov Telegram: Schon zu Beginn des Angriffskrieges im Februar 2022 seien dort hunderte Kanäle zur Nachrichtenverbreitung entstanden. In einer Analyse von texty.ua.org habe man Techniken zur Verbreitung verfolgt: Während offizielle Telegramkanäle nur wenig Desinformation enthielten, gebe es eine Fülle von Kanälen, die Nachrichten auch aus russischen Quellen sammelten – dort sei eindeutige Manipulation in der Verbreitung von Angst schürenden Narrativen zu finden. Ähnliche Aussagen fänden sich auch auf Youtube und Tiktok, zwei Plattformen, die immer aktiver in der Ukraine zu Nachrichtenzwecken genutzt werden. Oftmals finde sich dabei die Desinformation unter Unterhaltungsformaten getarnt.
Für weitere Informationen orientieren Sie sich gerne an folgenden von Serhii Mikhalkov empfohlenen Quellen.